Eine Linie meiner Vorfahren,
Weilmünster
führte nach Dietzenbach. Da die Dietzenbacher
Kirchenbücher komplett computer-technisch
erfaßt sind, bekam
ich bald einen Computer-Ausdruck mit den
entsprechenden Vorfahren, darunter die Familie
Lehr oder Löhr, zugeschickt. Die Herkunft der
Familie Löhr schien jedoch in Offenthal zu
liegen.
Obwohl es sich um einen Vorfahren von Anfang des 17.
Jahrhunderts handelt, mithin die Hoffnung auf eine
Weiterverfolgung der Linie relativ gering war,
fragte ich beim
zuständigen Pfarramt nach, worauf ich auf
Herrn Hang, einen lokalen Heimatforscher und
ebenfalls Nachkomme der Löhr-Sippe verwiesen
wurde. Mit diesem führte ich bald ein
Telefongespräch,
in welchem eine absolute Überraschung
zutage kam.
Und zwar soll mein Vorfahre
Philipp Löhr
1604 aus der Beziehung/Ehe seines Vaters
Stoffel Löhr
zu einer Roma namens
"Sigas"
aus Budapest hervorgegangen sein.
Dies ist näher in
dem Buch "Jahresband 1998 Landschaft Dreieich"
ausgeführt.
Von Stoffel Löhr stammt die Dietzenbacher
Linie der ansonsten in
Offenthal beheimateten Löhr ab, die - wohl
durch einen "Schreibfehler"
des Dietzenbacher Pfarrers - in späteren
Generationen und auch heute
noch "Lehr" heißt (was aber im hessischen Dialekt
von der Aussprache
her keinen Unterschied machen dürfte).
Die Mitglieder dieser Familie
würden im Volksmund "die Sicke" heißen -
angeblich abgeleitet vom Namen
Sigas. Außerdem soll es eine lokale Legende
geben, nach der "die
Dietzenbacher von den Zigeunern abstammen", die
wäre auf dieses Ereignis
zurückzuführen (die Aussage habe sich
wohl erst mal nur auf die
Dietzenbacher Löhr/Lehr bezogen).
Interessant
wird diese Legende nun dadurch, daß es eine
zweite, glaubhaftere, Version davon gibt, die
innerhalb der Familie Lehr überliefert worden
ist. Und zwar sei ein Mitglied der Familie einst
nach Ungarn ausgewandert, habe dort eine Roma
kennengelernt (oder dort geheiratet) und sei dann
zurückgekehrt. Diese Legende liefert sogar
den Namen der Frau, eben Sigas - ausgesprochen
"Siggasch" mit.
Dies wirkt auf den ersten Blick unglaubwürdig,
da Ungarn damals noch zum Osmanischen Reich
gehörte. Allerdings beweisen Steuerlisten aus
dem 16. Jahrhundert, daß Stoffel Löhr ein
sehr wohlhabender Mann gewesen sein mußte -
was ihm, wenn die Legenden einen wahren Kern haben,
nicht nur überhaupt die Beziehung zu einer
Nicht-Christin möglich gemacht haben
dürfte, sondern auch vielleicht erklären
könnte, wie er - etwa als reisender Kaufmann -
überhaupt nach Budapest geraten konnte.
Man mag nun von Familienlegenden halten, was man
will - ich habe jedenfalls im Verlauf meiner
Ahnenforschung die Erfahrung gemacht, daß
viele davon erstaunlich gut stimmen - etwa die
über die Herkunft der Familie Härtel wurde
rund 300 Jahre relativ gut zutreffend
überliefert. Ein Indiz für den
Wahrheitsgehalt der Legende ist vielleicht
das
ungarische Telefonbuch
, das 52 Familien namens Lehr im ganzen
Land und 19 davon
in Budapest enthält!
Es hat sich natürlich -
verständlicherweise - in der Überlieferung
nicht erhalten, welcher Lehr oder Löhr
denn die Sigas geheiratet hat. Dafür, daß
es der Stoffel Löhr war, spricht jedoch, daß
der Name seiner Frau in den ansonsten sehr gut
geführten Dietzenbacher Kirchenbüchern
nie genannt wird.
Die korrekte deutschsprachige Bezeichnung für
die Volksgruppe, der Sigas angehörte, ist
"Sinti und Roma".
Sinti ist genau genommen der
unter anderem in Deutschland
lebender Stamm der Roma. Wenn Sigas aus Budapest
stammte, dürfte sie allerdings eine Roma
gewesen sein. Die Sinti und Roma wurden
früher "Zigeuner" genannt.
Bei dem Wort "Zigeuner" handelt es sich um eine
Fremdbezeichnung, die die Sinti und Roma als
beleidigend empfinden. Es wird in deutsch oft
als "ziehender Gauner" gedeutet, was aber
etymologisch falsch sein muß, weil es
den Begriff auch in anderen Sprachen gibt und
dort nicht derart gedeutet werden kann:
Französisch "tsiganes", russisch "cyganki",
polnisch "cyganie", schwedisch "zigeunere",
ungarisch "zygan", tscheschich "cikàn" etc.
Wahrscheinlich stammt der Begriff entweder
vom persischen Wort für Schmiede "asinkari"
oder vom griechischen Wort "athinganoi",
"die Unberührbaren", ab, d.h. aus einem Land, durch
das die Roma auf ihrem Weg nach Europa
gezogen sind. Dies unterstützt die
These, daß die "Zigeunerin" aus der Legende
auch wirklich eine Roma und nicht einfach eine
Fremde oder Obdachlose war - diese abwertend
als "Zigeuner" zu
bezeichnen, scheint eine Erfindung neueren Datums
zu sein.
Kann die Legende irgendwie belegt werden? Derzeit
lautet die Antwort leider noch "nein". Wenn aber
Stoffel Löhr nach Ungarn ausgewandert ist,
sollten sich dort Dokumente finden lassen. Zum
anderen gibt es folgende Überlegung: Sigas
als Roma war wahrscheinlich nicht getauft - um
eine evangelische Heirat zu vollziehen, mußte
sie nachträglich getauft werden - oder, falls
die Heirat nach Sitte der Roma stattfand,
mußten die Kinder getauft werden usw. - auf
jeden Fall mußte irgendwann eine
kirchenbehördliche Genehmigung für einen
dieser Vorgänge erteilt worden sein und diese
sollte in einem für die Region zuständigen
Archive in Birstein, Marburg oder Darmstadt
"schlummern".
Die Herkunft der heute über ganz Europa
verbreiteten Roma lag lange im Dunkeln. So wurde
der englische Begriff "gipsy" etwa von "egyptian"
abgeleitet, weil man eine Herkunft aus Ägypten
vermutete. Vor allen Dingen aufgrund
von sprachwissenschaftlichen Untersuchungen ist man
sich jedoch heute sicher, daß die Roma
ursprünglich aus Indien stammen - das Romanes,
die Sprache der Roma ähnelt nämlich
dem altindischen Sanskrit.
Die meisten Roma haben nach dem derzeitigen Stand
der Forschung Indien in der Zeit der
Eroberungszüge des Afghanen Mahmud von Ghazni
verlassen. Er plünderte
zwischen 1000 und 1027 Nordindien. Roma heißt
einfach "Mensch", der Name Sinti
leitet sich möglicherweise von der Region
Sindh am unteren Flußlauf des Indus im heutigen
Pakistan her. Auf ihrem Zug nach Europa kamen die
Roma im 14. Jahrhundert nach Europa, wo sie
1348 zunächst in Makedonien und Serbien
und ab etwa 1400 unter anderem auch in Deutschland
bezeugt sind (Böhmen 1399, Hildesheim 1407,
Hessen 1414, Meißen 1416, Zürich,
Magdeburg und Lübeck 1417, Elsaß und
Sachsen 1418).
Letzte Aenderung: 06.10.2002, 11:02 Uhr
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